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In Zeiten von Corona: Predigt zum Sonntag Okuli
In Zeiten von Corona: Predigt zum Sonntag Okuli
# Predigten
In Zeiten von Corona: Predigt zum Sonntag Okuli
Auch in Zeiten von Corona ist es unser Auftrag, das Wort Gottes zu verkünden. In diesem Geiste veröffentlichen wir hier die Predigt von Pfarrer Dr. Ulrich Schöntube zum Sonntag Okuli, 15.3.2020.
Und als sie auf dem Wege waren, sprach einer zu ihm: Ich will dir folgen, wohin du gehst. 58 Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege. 59 Und er sprach zu einem andern: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. 60 Aber Jesus sprach zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes! 61 Und ein andrer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Haus sind. 62 Jesus aber sprach zu ihm: Wer seine Hand an den P[lug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.
Lukas 9,57-62 57
I.
Ich musste mir Isolierkleidung anziehen. Die Schwester auf der Station hatte darauf bestanden. „In diesen Zeiten“ hatte sie nur gesagt. Normalerweise gibt’s hier keinen Besuch im Dominikus zur Zeit“, knurrte sie. Wie hart, dachte ich. „Und bleiben Sie nicht so lange drin! Dann sinkt das Infektionsrisiko. Und kein Abendmahl oder was Sie da sonst so vorhaben“, warf sie mir mahnend hinterher. „Na prima“, dachte ich und fing schon an zu schwitzen. Dabei war ich noch gar nicht drin. - Nicht so lange? Natürlich hab’ ich auch keine Zeit. Die leeren Regale im Supermarkt verhießen nichts Gutes für der Familieneinkauf, der noch sein muss. In dieser Zeit.
Nicht so lange: Wie soll das gehen, wenn wir über das Leben reden? Etwa mit Kalenderblattweisheiten, à la: „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“ oder „Wer weiß, wofür es gut ist“ ? - „Sie haben zwar Krebs, aber die die Welt hat Corona. Bald sind wir alle beim Herrn. Ich muss jetzt raus. Amen.“
Und sie? Sie fängt an zu erzählen. Von der Landwirtschaft in Pommern. Wie sie als Kind hinter ihrem Vater herlief, der den Acker bestellte. Das war noch Handarbeit, den Acker pflügen und ernten. Leben im Rhythmus der Natur. Sie erwähnt einige Orte von damals: Neuenkirchen, Rügenwalde. Bei den Namen tauchen Bilder vor meinem Auge auf. Vor Jahren war ich mit meiner Frau dort unterwegs mit dem Fahrrad. Wir waren noch Studenten. Endlos lange Felder. Sie wurden damals gerade geerntet mit Mähdreschern, die in schnurgerader Route auf dem Feld fuhren. Einen Fahrer, den ich fragte, erzählte, das sei jetzt alles GP-gesteuert. Die Route wird anhand der Form des Feldes festgelegt für einen maximalen Ertrag bei der Ernte.
So leben wir im Rhythmus mit der Natur. Und jetzt sehe ich sie. Ein kleines Mädchen. Hinter dem Pflug läuft sie her. Hinter ihrem Vater. Ihr Weg durch das Leben fängt hier an. Und er schaut nach vorn. Und sie in seinen Rücken im Vertrauen, dass da am Ende des Tages ein Brot auf dem Tisch liegt.
Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht gemacht für das Reich Gottes. Lk 9,62
Die Hand an den Pflug legen, auf der geraden Furche gehen – das ist die Arbeit auf dem Acker des Lebens. Sie war darauf unterwegs, mit all den Bildern aus der Kindheit. Und ich bin es in meinem Leben auch, in meiner Furche.
Und als es soweit war, dass ich selbst den Pflug in der Hand hatte, da kamen die Fragen: Wie bin ich orientiert? Was ist mein Punkt am Horizont, der mir Halt gibt? Ich soll ja nicht zurückschauen beim Pflügen auf dem Acker des Lebens. Aber ich bin mir doch sicher: Die Furche wird nicht gerade sein. Denn ich bin den Steinen ausgewichen, den Steinen auf dem Acker des Lebens. Das waren Steine der Angst, Resignation, Schuld. Auch Steine, für die ich nichts konnte - Intrigen - und jetzt eine Pandemie. Wer ist denn von uns Ackerleuten wirklich für das Reich Gottes geschickt, mit gerader Furche, ausgerichtet auf den einen Punkt am Horizont?
Aber vielleicht muss die Furche gar nicht gerade sein. Es kommt nicht darauf an, ob der Weg gerade war, ob der Erfolg stimmt, die Lebensrechnung, soviel Ertrag wie möglich zu ernten. Das Ziel bestimmt den Weg, nicht die Kausalität der Geschichte, nicht der Erfolg meines geschickten effizienten Verhaltens. Auf das Ziel soll ich schauen, den Orientierungspunkt am Horizont, ihn mit dem Herzen anpeilen.
So Gott will, ist dieses Ziel der Vater, der die Arme offen hält am Ende – eine andere Geschichte, von der Lukas berichtet (Lk 15).
Und sie? Die Frau erzählt, wie sie hinterhergelaufen ist, hinter dem Pflug, gezogen von ihrem Vater, orientiert auf diesen Horizont. Das ist Nachfolge im Wechsel der Zeiten und Generationen. Und sie läuft immer noch auf ihn zu, auf diesen Horizont.
Und ich? Ja, ich auch! Mit krummer Furche auf dem Acker des Lebens.
II.
„Hallo, sind Sie noch da?“, fragt sie in mein Schweigen. Ich schwitze. Der Anzug war natürlich zu warm, auch der Mundschutz war längst feucht. „Und wie kamen Sie von dem pommerschen Feld des Lebens hierher?“, frage ich. „Es war Krieg“, so erzählte sie. Vater und Bruder wurden eingezogen und sind nicht zurückgekehrt. Sie sind also geflüchtet.
„Jedes Jahr haben wir eine Kerze ins Fenster gestellt in Erinnerung an ihren Todestag. Ich habe das beibehalten. Und jetzt brennen da noch mehr Kerzen für all die Lieben, die ich lassen musste - auf diesem Weg durch’s Leben. Es musste irgendwie gehen. Es gab kein Grab, kein keinen Ort zum Erinnern. Das war nicht gut. Aber wissen Sie, das Loslassen ist das Schwerste auf diesem Weg nach vorn - auf dem Acker des Lebens - ob mit oder ohne Grab.“
Ich schlucke, als sie das sagt. Ich sehe vor mir das schlichte Kreuz auf dem Grab meines Vaters, aufgerichtet vor zwei Monaten. Und überlege, wie es wäre, wenn es diesen Ort nicht gäbe. „Lass die Toten ihre Toten begraben“ - wie ein Hammer fällt der Satz in meinem Kopf. Ich spreche ihn nicht aus. Ein Träne mischt sich in mein Schwitzen.
Wie konnte Jesus so etwas sagen über die Nachfolge? Zwei Jünger wollen nachfolgen. Der eine will noch den Vater begraben, der andere die Lieben daheim verabschieden. Und Jesus sagt: Tut’s nicht - Das ist echte Nachfolge.
Ich komme da nicht mit. Die Liebe zur eigenen Familie, zu den Menschen, die mir anvertraut sind, wird in einer ans Gewissenlose grenzenden Weise überboten von der Verantwortung für das Himmelreich. - Für den Zielpunkt am Horizont auf dem Acker des Lebens. Das ist keine Werbung für den Weg auf dem Acker der Nachfolge. Im Gegenteil. Es ist ein emotionales, kulturelles Tabu, die Familie und ihre Geschichte zurückzulassen. Das ist eine Zumutung.
Und so stehe ich unter den Jüngern mit meinem Schutzanzug, meinem Mundschutz und will mich abwenden von diesem Satz, von Jesus. Da sagt er zu mir: „Sie hat es gelernt und ich auch. Und Du lernst es auch - Nachfolgen heisst Loslassen für das Leben.“
Und er fängt an, von sich zu erzählen - dem Menschensohn, der kein zu Hause hat: „Die Füchse haben Gruben, und die Vögel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wohin er sein Haupt lege.“ Menschen müssen wohnen in der Welt, sich einrichten. Unentwegt baut der Mensch an seiner Welt. Er sucht Schutz mit Anzügen und Atemmasken. Am Leben bleiben, Geschichte machen ist sein Ziel.
Und der Menschensohn? Ihm fehlt dieses Ziel. Und um vom Menschensohn zu reden, muss Jesus Fuchs und Vogel bemühen. Auch sie haben ihm noch viel voraus. Sie stehen für Charaktere, die Dir und mir in der Furche des Lebens begegnen.
Der gemeine Fuchs, der eine günstige Gelegenheit sucht durchzukommen. Der gelegentlich offensichtlich oder nicht eine Gans stiehlt und den Landmann beunruhigt. Er schweift herum, richtet Unheil an und doch hat er Heimat, einen Bau.
Der Vogel, der sich in Freiheit hoch in Lüfte schwingt und von der Liebsten einen Zettel im Schnabel trägt, Visionen hat von einer besseren Welt, einem besseren Leben und einer besseren Kirche - auch er hat ein Nest.
Der Menschensohn ist aber ohne Heimat, ohne Schutz auf einem sehr viel längeren Weg durch die Zeiten.
Er hat nichts, wohin er sein Haupt legt, damit er als Heimatloser bei mir zu sein kann in der Furche meines Lebens - in meiner Suche nach Heimat, nach Sinn.
Er hat nichts, wohin er sein Haupt legt, damit er als Schutzloser beim Schutzlosen sein kann, auch in Pandemiezeiten.
Er hat nichts, wohin er sein Haupt legt, damit als Unschuldiger beim Schuldigen ist. Er hat nichts, wohin er sein Haupt legt, um allgegenwärtig zu sein, um da zu sein.
Er hat nichts, wohin er sein Haupt legt, damit er dazwischen treten kann, zwischen mich und meine Geschichte, damit ich die krummen Furchen des Leben, die ich in meinem Rücken wähne, ertragen kann.
Er hat nichts, wohin er sein Haupt legt, damit weder Vergangenheit noch Gegenwart sich uns in den Weg stellt, wenn es um das Himmelreich geht.
III.
Sie kommt mit ihrer Erzählung zum Ende. Es ist jetzt doch ganz schön warm unter diesem Anzug. Ich bin viel zu lange hier drin. Den Kommentar der Schwester höre ich schon. Ich merke, wie ein Schweißtropfen den Rücken hinunter kriecht. Seine Furche ist auch nicht gerade. Das spüre ich. Und sie?
Sie erzählt: „Jedes Jahr haben wir eine Kerze ins Fenster gestellt in Erinnerung an ihren Todestag. Ich habe das beibehalten. Und jetzt brennen da noch mehr Kerzen für all die Lieben, die ich lassen musste - auf diesem Weg durch’s Leben … Aber wissen Sie, das Loslassen ist das Schwerste auf diesem Weg nach vorn - auf dem Acker des Lebens - ob mit oder ohne Grab.“
Ich schlucke, als sie das sagt. Ich sehe vor mir das schlichte Kreuz. Ja, ER hat losgelassen. Im Garten Gethsemane. Er hat losgelassen am Kreuz. So sehr, dass er sogar meinte: Dass der Vater ihn verlassen habe. Er hat das Loslassen durchlitten für mich. Für Dich. Damit wir ahnen: hinter dem Ende ist Leben.
Und so stehe ich unter den Jüngern mit meinem Schutzanzug, meinem Mundschutz und wollte mich abwenden von ihm. Da sagt er: „Sie hat es gelernt und ich auch. Und Du lernst es auch - Nachfolgen und Loslassen - für das Leben.“
Amen
Foto: pixabay.com
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