02/07/2024 0 Kommentare
O Mensch bewein dein Sünde groß
O Mensch bewein dein Sünde groß
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O Mensch bewein dein Sünde groß
In der Karwoche laden wir sie ein zu einem Blick in das Innere. Jörg Walter gewährt uns einen Blick in das Innere der Orgel unserer Johanneskirche, wenn er aus dem Orgelbüchlein von Johann Sebastian Bach das Choralvorspiel des Wochenliedes „O Mensch bewein dein Sünde groß“ spielt (BWV 622). Pf. Ulrich Schöntube besucht das Inneres des Liedtextes in der unten stehenden Betrachtung. Wir wünschen Ihnen allen damit eine gesegnete Karwoche.
O Mensch bewein Dein Sünde groß
Johann Sebastian Bach platzierte den Choral „O Mensch bewein Dein Sünde groß“ nicht nur in seinem Orgelbüchlein. Sondern er setzte ihn als Schlusschoral des ersten Teils der Matthäus-Passion ein. Diesen kunstvollen Bearbeitungen liegt ein Choral zugrunde, der auch noch heute in unserem Gesangbuch (EG 76) zu finden ist. Dort heisst es:
1) O Mensch, bewein dein Sünde groß,
darum Christus seins Vaters Schoß
äußert und kam auf Erden;
von einer Jungfrau rein und zart
für uns er hier geboren ward,
er wollt der Mittler werden.
Den Toten er das Leben gab
und tat dabei all Krankheit ab,
bis sich die Zeit herdrange,
dass er für uns geopfert würd,
trüg unsrer Sünden schwere Bürd
wohl an dem Kreuze lange.
2) So lasst uns nun ihm dankbar sein,
dass er für uns litt solche Pein,
nach seinem Willen leben.
Auch lasst uns sein der Sünde feind,
weil uns Gotts Wort so helle scheint,
Tag, Nacht danach tun streben,
die Lieb erzeigen jedermann,
die Christus hat an uns getan
mit seinem Leiden, Sterben.
O Menschenkind, betracht das recht,
wie Gottes Zorn die Sünde schlägt,
tu dich davor bewahren!
Der heute bekannte Liedtext legt uns Worte und Bilder vor, die heute fremd erscheinen. In ihnen ist von Sünde, von Opfer und von dem Zorn Gottes die Rede. Sie führen uns in die Gedankenwelt der Reformationszeit. Im Jahr 1530 dichtete Sebald Heyden (1499-1561), Kantor und Lehrer an der Schule St. Sebald in Nürnberg, dieses Lied. In 21 Strophen erzählte der Schulmeister die Passionsgeschichte nach. Als Rahmen setzte er zwei Strophen hinzu. Die erste Strophe deutet das folgende Geschehen der Passion als Hingabe Jesu am Kreuz, als Opfer für die Sünden. In der letzten Strophe, die nach der Passionserzählung gesungen wurde, sollten praktische Lehren empfohlen werden, nämlich „gegen jedermann Lieb zu erzeigen“.
Bis weit in das 18.Jahrhundert hinein wurde das Lied in den Gesangbüchern vollständig abgedruckt. Im 19. Jahrhundert verschwand das Lied. Erst in den neueren Gesangbüchern taucht es wieder auf, allerdings reduziert auf die erste und letzte Strophe der Passionsdichtung. So ist es auch in unserem Gesangbuch (EG 76) zu finden.
Musikalisch liegt dem Lied eine Melodie zugrunde, die ursprünglich den 119. Psalm vertonte. Sie war wenige Jahre vor der Dichtung durch den Straßburger Ordensmann Matthäus Greiter (1495-1550) geschrieben worden. Der 119. Psalm ist der längste Psalm der Bibel. Er enthält ein strenges Ordnungsprinzip einer Buchstaben- bzw. Zahlensymmetrie. Alle acht Verse beginnt ein neuer Abschnitt, der einem Buchstaben des hebräischen Alphabets zugeordnet ist. So ergeben sich 22 Abschnitte zu 22 Buchstaben. Diese Methode weist auf den Inhalt des Psalmes. Es geht um Gottes Ordnung und die damit verknüpfte Bundestreue. Die Ordnung Gottes sieht vor, dass ER wegen der Gesetzestreue der Menschen seinen Bund treu halten wird.
Sebald Heyden übernimmt ganz bewusst diesen musikalischen Hymnus des 119. Psalmes, der die Ordnung des Gottesbundes ausdrückt. Er deutet ihn auf den neuen „ordo salutis“ um. Es gibt eine neue Heilsordnung, die sich in der Geburt Christi, seinem Sterben und Auferstehen erkennen lässt. Deshalb lässt Sebald Heyden seinen Hymnus auch mit der Geburt Christi „von einer Jungfrau rein und zart“ beginnen. Deshalb beendet er die Passionsdichtung auch nicht mit dem Tod am Kreuz, sondern mit der Auferstehung. In der vorletzten Strophe berichtet Heyden von der Auferstehung. Sie lautete ursprünglich:
„Die Juden führten noch ein klag,
verhüttens grab, am dritten tag
Jhesus sund auff mit gwalte,
Auff das er uns ja frumme mecht
und mit im in sein reyche brecht
auß der sündtlichen gstalte.
Darumb wir sollen fröhlich sein,
das unser seligmacher feyn,
Christus, hat uberwunden
für uns der sünden grosse not,
dazu die hellen und den todt
und auch den Teuffel bunden.“
Die Passion, so möchte Sebald Heyden uns sagen, ist eingebettet in eine Ordnung, einen Plan Gottes, durch den er den Menschen retten möchte.
Zu diesem Plan gehörte zu Zeiten des 119. Psalmes das Gebot Gottes als Ausdruck seiner Bundestreue.
Zu diesem Plan gehört nun, dass Gott Mensch wird, um ein Mittler zu sein, wie es in der ersten Strophe heisst.
Zu diesem Plan gehören der Tod am Kreuz und die Auferstehung, durch die Christus für die Menschen „Sünde, Tod und Teufel“ überwindet. In diese Folge der Heilsgeschichte ist der Mensch, der Glaubende in je seiner Zeit, einbezogen. Denn es ist an ihm die Liebe Gottes, die ihm in der Menschwerdung, Kreuzigung und Auferstehung begegnet, weiterzugeben. So heisst es in der ursprünglich letzten und jetzt zweiten Strophe des Hymnus, dass wir uns von der Sünde - also von allem uns von Gott Trennenden - fernhalten sollen und „Die Lieb erzeigen jedermann, die Christus hat an uns getan.“
Diese letzte Strophe bringt in die Passionsdeutung Heydens eine große Spannung. Denn sie wirft die Frage auf, ob das durch Christus geschenkte Heil etwa an die Bedingung geknüpft ist, dass wir die Liebe weitergeben und uns der Sünde enthalten. Dahinter steht die Frage, wie wir Menschen uns angesichts der Passion verhalten, ja welche Folgen sie in unserem Alltag hat. Der Protestantismus wird über die Frage in den Jahrhunderten nach Sebald Heyden theologisch ausgefeilte Debatten führen. Er wird versuchen zu erklären, wie das Verhältnis zwischen der Rechtfertigung und der Heiligung, zwischen Gnade und Tun sein wird. Er wird sich darüber auch in verschiedene Auslegungsrichtungen und Kirchen teilen.
Bei Sebald Heyden aber gehört die Gnade Gottes und das praktische Handeln des Menschen in denselben ordo salutis Gottes wie Weihnachten, Karfreitag und Ostern.
In der Aufnahme, die wir hier hören können, lässt uns Jörg Walter in das Innere der Orgel unserer Johanneskirche schauen. Wir sehen einen Teil der Traktur, die sich bewegt. Wir sehen eine Ordnung, ein System. Das Bild ist ein Sinnbild für einen Gedanken, der Sebald Heyden und später auch Johann Sebastian Bach berührte: Vertrau der Ordnung Gottes, seiner Treue und sieh, wie sehr unser Leben mit Gottes Handeln in der Welt verwoben sind.
In den Zeiten der Corona-Pandemie erscheint uns die Welt aus den Fugen geraten zu sein. Ordnungen, Systeme sind durcheinander. Der Tod ist real. Der Choral sagt mir: Wenn ich keinen Plan der Welt mehr sehen kann und für mich selbst auch keinen - Gott hat einen Plan und ich und Du, wir haben einen Patz darin. Dies hat seine Heilsgeschichte gezeigt mit Weihnachten - Karfreitag - Ostern. Und ich habe in dieser Geschichte Gottes zu meiner Zeit einen Platz.
Wenn also auch die Sprache und die Frömmigkeitswelt Sebald Heydens 500 Jahre alt sind, wenn sie auch in unseren Ohren fremd klingen - so ist seine Botschaft doch aktuell.
Dr. Ulrich Schöntube
Lit.: Christina Falkenrot, Die Passion Jesu im Kirchenlied, Tübingen 2017.
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