02/07/2024 0 Kommentare
Unser Schaukasten im September -Maßnehmen-
Unser Schaukasten im September -Maßnehmen-
# Schaukasten
Unser Schaukasten im September -Maßnehmen-
Ein riesiges Maßband schlängelt sich durch den Schaukasten auf violettem Untergrund. Es schlängelt sich um acht Gliederpuppen aus Holz, die jeweils auf Säulen in unterschiedlichen Farben stehen. Und nicht ohne Absicht sind die bunten Säulen an die Farben der verschiedenen Parteien angelehnt, wir haben Wahlkampf! Darüber ein Zitat von George Bernard Shaw, dem irischen Dichter und Satiriker:
Der einzige Mensch, der sich vernünftig benimmt, ist mein Schneider. Er nimmt jedes Mal neu Maß, wenn er mich trifft, während alle anderen immer die alten Maßstäbe anlegen in der Meinung, sie passten auch heute noch.
Ertappt? Sind wir nicht alle schnell im Maßnehmen, zu Wahlkampfzeiten vielleicht noch mehr als sonst? Legen wir nicht alle unsere eigenen Maßstäbe an - egal, wie alt sie sind? An uns und auch an die anderen Menschen um uns herum? Wer gibt uns eigentlich das Recht, andere Menschen zu messen und sie nicht als Gottes Kinder einfach so zu akzeptieren wie sie sind, mit allen Fehlern und unterschiedlichen Meinungen?
Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet, heißt es in der Bergpredigt. Aber messen wir nicht ständig alle anderen - mal mehr mal weniger kritisch, mit Blicken und mit einordnenden Worten? Packen wir nicht jeden in eine Schublade unserer eigenen geistigen Kommode? Wie soll es denn auch gehen in einer so schnelllebigen Welt, wenn wir kein ordnendes Gerüst in uns hätten? Was gelten unsere Werte, wenn wir sie nicht als Maßstab nutzen können? Gerade die Komplexität und Entwicklungsdynamik unserer Welt macht es so schwierig, zu bewerten, ob unser Maßstab noch zeitgemäß ist, ob er noch allgemeingültig ist oder nur noch unser eigener Maßstab oder der einer kleinen Gruppe. Gerade in Zeiten des Umbruchs und Wandels sind die eigenen „alten“ Maßstäbe auf den Prüfstand zu stellen und gleichzeitig sehnen wir uns nach Sicherheit, Stabilität und Verlässlichkeit. Werden wir den anderen und der aktuellen Situation mit unseren Maßstäben gerecht?
Es ist ja in ruhigen Zeiten schon problematisch, andere Menschen schnell einzuordnen. Auch wenn es im Alltag pragmatische Gründe und Notwendigkeiten geben mag. Schließlich müssen wir ja auch beherzt Entscheidungen im Alltag treffen, die nicht immer lange im Für und Wider abgewogen werden können. Noch problematischer wird es, wenn wir unser altes Maßband weiter benutzen oder gar nicht erst neu Maß nehmen, sondern uns auf unsere alten Messungen, d.h. unsere alten Urteile verlassen, ohne das Gegenüber überhaupt genauer anzuschauen bzw. genauer zuzuhören.
Das Wort Maßband beinhaltet auch das Wort „Band“. Wir verbinden uns mit Menschen - sind mit Ihnen durch Wort und Tat verbunden. Schauen wir nicht mehr so genau hin und sind wir all zu schnell mit unseren (Wert-)Maßstäben, droht diese Verbundenheit zu zerreißen. Diese Gefahr ist sehr real und nicht nur eine allgemein gesellschaftliche Tendenz, die weit weg ist. Das spüren alle, deren Freundschaften, Nachbarschaften und Familienbande aufgrund sehr unterschiedlicher Meinungen zu den aktuellen Lebensthemen ins Holpern geraten. Können wir noch aufmerksam und differenziert zuhören, oder sind wir schnell aufgrund der Vielfalt überfordert?
Während die gesamtgesellschaftliche Toleranz für verschiedene Lebensweisen wächst, wird der eigene Maßstab enger. Viele von uns sind durch die Buntheit und Vielfalt so verunsichert, dass sie sich lieber an das Altbewährte halten, statt neu und selbstständig zu urteilen. Toleranz gedeiht am besten auf dem Boden von Sicherheit und Sicherheit geht gerade verloren in unserer Gesellschaft. Erste große Flüchtlingsströme, Coronakrise, eine Häufung von Unwettern, als Folge einer gravierenden Klimaveränderung, der Umbruch des weltpolitischen Gefüges ... Die Aufzählung von Herausforderungen und Krisen lässt sich fortsetzen. Die damit verbunden Debatten um veganes Essen aus Rücksicht auf die Umwelt, die Frage nach Impfung oder Nichtimpfung haben immenses Spaltungspotential. Die Einen fühlen sich ausgegrenzt, die Anderen verzweifeln an der mangelnden Einsicht und Solidarität der Ersteren. Es geht ja auch um große Fragen, um Leben und Tod, womöglich um den Fortbestand unserer Erde. Wie soll man da tolerant sein?
Alte Wertvorstellungen scheinen nicht mehr zu tragen, wirtschaftliche Unsicherheit macht sich breit, Angst greift um sich. Da hält man sich gern an das Bewährte, das scheinbar Sichere. Unterstützt wird diese Tendenz zur Intoleranz durch die ungefilterte, globale, digitale Präsenz aller Meinungen und Informationen. Jede Theorie, so abwegig und substanzarm sie erscheinen mag, erhält dadurch einen Resonanzboden. Anhänger realisieren oft nicht, dass die technisch vorgegebenen Algorithmen des Vorschlagens ähnlicher Inhalte zu einer inhaltlichen Endlosschleife und gefährlichen Verengung der Maßstäbe führen.
Vielleicht tut es gut, einen Schritt zurückzutreten und die eigene Bedeutung und auch die eigene Einflussmöglichkeit nicht überzubewerten, ohne deshalb in Untätigkeit zu verfallen. Der nicht zerstört das Werk seiner Hände… . So können wir wieder toleranter sein gegenüber unseren Mitmenschen, in ihnen zuerst Gottes geliebtes Kind sehen, trotz aller Unterschiedlichkeit der Meinungen, statt vorschnell das eigene Maßband anzulegen. Bleiben wir miteinander verbunden, lassen wir das Band nicht abreißen!
Maren Topf-Schleuning / Claudia Kraffzig
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